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Die Tabus

Die Gesellschaft stellt die Schwangerschaft, die Geburt und den Übergang zur Elternschaft als einen glücklichen, fast heiligen Lebensabschnitt dar. Die Herausforderungen, auf die man in dieser Zeit stossen kann, werden selbst unter Angehörigen kaum thematisiert. Dabei sind sie alles andere als selten. Hinzu kommen gesellschaftliche Vorgaben, die wenig Raum für die Erfahrungen und Fragen des Einzelnen lassen.

Tabus und vorgefasste Meinungen betreffen alle Etappen auf dem Weg zur Elternschaft, vom Kinderwunsch bis zur Rückkehr ins Berufsleben nach der Geburt. Sie isolieren Menschen in komplexen Situationen, indem sie sie in Schweigen und Schuldgefühlen gefangen halten.

Dennoch gibt es keinen vorgezeichneten Weg zur Elternschaft. Jede Geschichte ist einzigartig und verdient es, gehört zu werden.

Der Wunsch nach einem Kind

Durch eine Samenspende geboren werden

Durch eine Samenspende können Paare mit männlicher Unfruchtbarkeit, mit übertragbaren genetischen Krankheiten oder lesbische Paare ein Kind bekommen. Lange Zeit galt es als besser, dem Kind nichts über seine Herkunft zu erzählen. Doch die Transparenz von einem frühen Alter an ermöglicht es ihm, diese Information ohne Anpassungsschwierigkeiten in seine persönliche Geschichte zu integrieren. Das Fehlen einer genetischen Verbindung zu einem Elternteil scheint keine Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung zu haben. Die Schaffung einer positiven Erzählung, die dem Spender einen Platz einräumt, ohne den Status der Eltern in Frage zu stellen, könnte sowohl für das Kind als auch für die gesamte Familie von Vorteil sein.

Ein Leben ohne Kinder

Die Gründung einer Familie wird oft als die Erfüllung eines Lebens angesehen. Manche Menschen erkennen sich jedoch in diesem Vorhaben nicht wieder und möchten keine Kinder haben. Diese Entscheidung kann aufgrund des gesellschaftlichen Drucks, ein traditionelles Familienleben zu führen, in der Öffentlichkeit schwer zu verantworten sein. Es ist jedoch durchaus möglich, ein erfülltes Leben zu führen, ohne Kinder zu haben. Entgegen der landläufigen Meinung bereuen Menschen, die diese Entscheidung getroffen haben, diese Entscheidung nicht mehr als diejenigen, die sich entschieden haben, ein Kind zu bekommen. Die Gründe für diese Entscheidung sind komplex und hängen von den Lebenszielen und Werten jedes Einzelnen ab.

 

Der freiwillige Schwangerschaftsabbruch

Ein Schwangerschaftsabbruch (Abtreibung) kann ein komplizierter Prozess sein. Die Situation ist umso belastender, als diese Entscheidung häufig stigmatisiert wird. Manchmal wird fälschlicherweise angenommen, dass die Entscheidung leichtfertig getroffen wurde oder dass die Betroffenen sich einfach nicht bemüht haben, angemessen zu verhüten. Frauen oder Paare, die sich für eine Abtreibung entscheiden, sind jedoch häufig mit komplexen und unvorhergesehenen Situationen konfrontiert, die emotional sehr belastend sind, und sie tun alles, um die unter den gegebenen Umständen bestmögliche Entscheidung zu treffen. Darüber hinaus durchlaufen diese Menschen nach einem Schwangerschaftsabbruch eine besondere Trauerphase, die manchmal von Schuldgefühlen geprägt ist und mit den Angehörigen nur schwer besprochen werden kann.

 

Unfruchtbarkeit

Unfruchtbarkeit, definiert als das Ausbleiben einer Schwangerschaft nach einem Jahr regelmässigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs, ist häufiger als man denkt: 10 % aller Paare im gebärfähigen Alter sind davon betroffen. Entgegen der landläufigen Meinung sind die Ursachen zu gleichen Teilen auf Gesundheitsprobleme des Mannes, der Frau oder auf kumulierte Faktoren zwischen beiden zurückzuführen. Unfruchtbarkeit stellt den Wert, die Männlichkeit oder die Weiblichkeit der Betroffenen nicht in Frage. Darüber hinaus trägt das Tabu, das manchmal mit einer Unfruchtbarkeitsdiagnose einhergeht, dazu bei, den Eindruck zu erwecken, dass diese Situation selten ist. Daher ist es wichtig, den von Unfruchtbarkeit Betroffenen Gehör, Unterstützung und Sichtbarkeit zu bieten, um ihnen zu helfen, Scham und Schuldgefühle zu vermeiden, und sie über medizinische Hilfen zur Empfängnis zu informieren.

Die Regenbogenfamilien

Für seine Entwicklung braucht ein Kind gute Beziehungen zu seinen Elternfiguren. Es kann sich in anderen Familienkonstellationen als derjenigen, die aus einer Mutter und einem Vater besteht, genauso gut entfalten. Die Familienzusammensetzung hat keinen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden, die sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität von Kindern. Dies gilt insbesondere für Kinder, die einer Regenbogenfamilie angehören und mindestens einen LGBTIQ+-Elternteil (lesbisch, schwul, bisexuell, trans, intersexuell, queer) haben. Sie können jedoch unter der Stigmatisierung durch die Gesellschaft, in der sie leben, leiden.

 

Schwangerschaft

Die Schwangerschaft als Co-Elternteil erleben

Während einer Schwangerschaft durchlebt die Mutter intensive körperliche und hormonelle Veränderungen. Diese Phase ist auch für den Co-Elternteil kritisch, selbst wenn er oder sie das Kind nicht austrägt. Denn die Bindung an das ungeborene Baby kann sich auch schon vor der Geburt entwickeln, und die Auswirkungen der Schwangerschaft sind so gross, dass es zu hormonellen Veränderungen kommen kann. So erleben werdende Väter, die regelmässig Kontakt zu ihrer schwangeren Partnerin haben, manchmal, dass sich ihr Testosteronspiegel mit dem der Mütter synchronisiert und so im Laufe der Monate abnimmt. Die Auswirkungen einer Schwangerschaft sind also tatsächlich für beide Elternteile spürbar, und es ist wichtig anzuerkennen, dass auch der Co-Elternteil eine Phase tiefgreifender Umwälzungen durchläuft.

Fehlgeburt und Trauer

Der Verlust eines Babys während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den Tagen danach ist eine Tragödie, die viele Eltern betrifft. Eine von zehn Frauen erlebt in ihrem Leben mindestens einen spontanen Schwangerschaftsabbruch, der auch als "Fehlgeburt" bekannt ist. Die Eltern müssen ein Kind verabschieden, auf das sie sich vorbereitet hatten und das ihnen bereits ans Herz gewachsen war. Grosse Trauer in dieser sensiblen Phase ist natürlich, wird aber in der Gesellschaft kaum thematisiert, was dazu beiträgt, dass die Eltern in diesem Prozess isoliert sind. Ihr Leiden wird von ihrem Umfeld oft nicht angemessen anerkannt. Es ist wichtig, auf ihre Gefühle und Bedürfnisse einzugehen.

Der medizinische Schwangerschaftsabbruch

Der medizinische Schwangerschaftsabbruch (MSA) ist ein seltenes Ereignis, das in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft auftritt, jenseits der 12 Wochen, die für einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch (FGA) zulässig sind. Diese schwierige Entscheidung wird getroffen, wenn für das ungeborene Kind ein hohes Risiko besteht, an einer besonders schweren und unheilbaren Krankheit zu leiden, oder wenn die physische oder psychische Gesundheit der Mutter gefährdet ist. Für die Eltern ist dies eine belastende Erfahrung und es sollte eine Begleitung angeboten werden, um sie zu informieren und in diesem Prozess zu unterstützen.

 

Geburt

Die Frühgeburt

Frühgeburten, d. h. Lebendgeburten vor der 37. Schwangerschaftswoche, machen 6% aller Geburten in der Schweiz aus. Bei später (vor der 35. Woche), früher (vor der 32. Woche) oder extrem früher (vor der 27. Woche) Frühgeburt müssen die Babys meist auf einer Neonatalstation bleiben. Diese oft unbekannte Erfahrung ist für die Eltern schwer zu verarbeiten: Die Umgebung denkt manchmal, dass alles in Ordnung ist, da das Baby ja lebt. Doch obwohl die medizinische Versorgung von Neugeborenen lebensrettend ist, kann sie für die Eltern traumatisch sein und in den schlimmsten Fällen langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes haben.

 

Die traumatische Geburt

Die Geburt wird oft als der schönste Tag im Leben der Eltern bezeichnet. Allerdings löst dieses Ereignis manchmal viel Kummer aus. So können die Eltern während der Geburt eine Bedrohung für das Leben des Kindes und/oder der Mutter wahrnehmen oder einen grossen Kontrollverlust verspüren. Diese traumatischen Erlebnisse können sich langfristig auf die psychische Gesundheit der Eltern und die Bindung zu ihrem Kind auswirken. Die Anerkennung dieser Erfahrung ist von entscheidender Bedeutung, um eine auf die Bedürfnisse dieser Eltern zugeschnittene Begleitung anbieten zu können.

Das idealisierte Kind

Schon vor der Bekanntgabe der Schwangerschaft stellt sich jeder werdende Elternteil das Kind vor, von dem er hofft, dass es geboren wird. Das Kind wurde also vor seiner Geburt idealisiert, was zu einer Diskrepanz führen kann, wenn die Eltern mit der Realität konfrontiert werden. Dieser Überraschungseffekt ist üblich, insbesondere wenn eine Behinderung angekündigt wird, und sollte ihre Fähigkeit, sich um ihr Kind zu kümmern, nicht in Frage stellen. Es ist jedoch wichtig, diesen Eltern einen wohlwollenden Raum für Gespräche anzubieten, um sie bei den zahlreichen Anpassungen zu unterstützen, die der Übergang zur Elternschaft erfordert.

Das Baby ist da

Eltern werden weit weg von zu Hause

Der Übergang zur Elternschaft ist für frischgebackene Eltern eine intensive Zeit. Dabei wirkt sich das Umfeld, in dem sie leben, über individuelle Faktoren hinaus auf ihre psychische Gesundheit aus. So stehen Menschen, die weit weg von zu Hause eine Familie gründen, vor zahlreichen Herausforderungen. Wenn man beispielsweise eine Schwangerschaft erlebt, ohne die gleiche Sprache wie die Mehrheit der Bevölkerung zu sprechen, erschwert dies den Zugang zu Informationen und setzt einen während der Schwangerschaft grösseren Risiken aus. Darüber hinaus tragen auch die Entfernung von Familie und Freunden sowie ein potenzieller Kulturunterschied dazu bei, dass Eltern mit Migrationshintergrund isoliert sind. Die Bereitstellung von Übersetzungs- und Austauschmöglichkeiten hilft, diese Herausforderungen auszugleichen.

 

Postpartale Depression

Die postpartale Depression, die oft mit dem Babyblues verwechselt wird, ist eine psychische Störung, die eine von sechs Müttern und bis zu einen von zehn Vätern betrifft. Sie ist durch eine gedrückte Stimmung gekennzeichnet, die während des ersten Lebensjahres des Babys auftritt. Die Risikofaktoren sind sowohl biologisch als auch psychologisch und sozial bedingt. Neben den individuellen Aspekten ist es wichtig, das Umfeld der an postpartaler Depression leidenden Personen zu berücksichtigen. Trotz der hohen Häufigkeit ist es für betroffene Eltern immer noch schwierig, über diese Störung zu sprechen und Hilfe zu suchen, da sie Angst haben, verurteilt zu werden.

 

Bindungsschwierigkeiten nach der Geburt

Die Bindung an das eigene Kind wird oft als etwas Natürliches und Unmittelbares empfunden. Für viele Eltern ist der Aufbau einer emotionalen Bindung zu ihrem Baby allerdings ein, manchmal verzögerter, Prozess und kein unmittelbarer Zustand und das kann die Eltern verunsichern. Dies bedeutet nicht, dass sich ein Elternteil nicht angemessen um sein Kind kümmert, es kann jedoch auf eine zugrunde liegende psychische Notlage hindeuten, wenn Bindungsschwierigkeiten länger andauern. So ist es wichtig, diesen Eltern einen Raum für ein nicht wertendes Zuhören zu bieten, damit sie ihre Beschwerden äussern und angemessene Unterstützung finden können.

Gleichgewicht

Das elterliche Burn-out

Burn-out wird häufig mit der beruflichen Arbeit in Verbindung gebracht, kann aber auch Eltern treffen, die mit chronischem Stress zu kämpfen haben. Wenn es um die Familie geht, ist Burnout eine emotionale oder körperliche Erschöpfung in der Elternrolle. Die Eltern wissen nicht mehr, wie sie mit der Situation umgehen sollen, weil sie mit ihren Ressourcen am Ende sind und sich von ihrem Kind emotional distanzieren. Die meisten würden sich gerne voll in die Erziehung ihres Kindes einbringen, finden aber nicht mehr die nötige Kraft und trauen sich aus Schuldgefühlen nicht, um Hilfe zu bitten. Die Schweiz ist von diesem Syndrom stark betroffen, vor allem wegen der hohen Erziehungslast der Eltern.

 

Geschlechterstereotype

Geschlechterstereotype sind Klischees, die Menschen auf Rollen und Aufgaben festlegen, die mit ihrem Geschlecht verbunden sind. Sie binden Frauen an Kinder und Haushalt und Männer an die Berufswelt. Trotz einer Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung sind auch heute noch in 70% der heterosexuellen Paare in der Schweiz die Frauen für den Grossteil der Hausarbeit und die Bedürfnisse der Kinder verantwortlich. Darüber hinaus wirkt sich die Tatsache, Kinder zu haben, für Frauen auch langfristig viel stärker auf das Berufsleben aus als für Männer. Es ist daher wichtig, diese Stereotypen zu beleuchten, um sie zu bekämpfen und es Eltern zu ermöglichen, sich nach ihren Wünschen und Fähigkeiten zu verwirklichen und nicht, indem sie sich gesellschaftlichen Normen beugen, die ihnen nicht unbedingt entsprechen

Die mentale Belastung (mental load)

Unter mentaler Belastung versteht man die, häufig ungleich verteilte, Last der ständigen Verantwortung für alle Aufgaben, die notwendig sind, um einen reibungslosen Ablauf des alltäglichen Lebens zu organisieren. Dieser Begriff, der in den letzten Jahren regelmässig in den Vordergrund gerückt ist, wird immer noch als Erfindung bezeichnet, und manche zögern nicht, seine Bedeutung zu leugnen oder zu sagen, dass das Problem, kaum dass es entdeckt wurde, schon gelöst sei. Studien zu diesem Thema zeigen jedoch, dass in heterosexuellen Paaren die mentale Belastung nach wie vor überwiegend von den Frauen getragen wird. Daher ist es wichtig, dieses Phänomen zu erkennen, um sich seiner bewusst zu werden, es zu analysieren und dann Strategien zu entwickeln, um ihm entgegenzuwirken. Eine bessere Verteilung der mentalen Belastung wirkt sich positiv auf Paare und ihre Familien aus.

Das Stillen

Frauen stehen in Bezug auf das Stillen unter grossem gesellschaftlichem Druck. Sie werden zum Stillen ermutigt, weil es für ihr Kind wichtig ist, müssen sich aber manchmal dafür verstecken. Oftmals fällt es ihnen schwer, das Stillen mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu vereinbaren, die ihnen keinen Raum dafür lässt. Trotz der zahlreichen Belege dafür, dass Stillen die gesunde Entwicklung des Kindes fördert, ist es auch wichtig, das Wohlbefinden der Frauen zu berücksichtigen und ihre Entscheidung für oder gegen das Stillen zu unterstützen. Sich zum Stillen gezwungen zu fühlen und es gegen ihren Willen zu tun, kann sich negativ auf diese Frauen und ihre Bindung zu ihrem Kind auswirken. Umgekehrt sind viele Frauen, die stillen möchten, mit einer Umgebung konfrontiert, die es ihnen erschwert, ihr Stillen einzurichten oder beizubehalten.